Februar 2021: Familien sind unersetzliche Start-Ups!
euf: Sie sind seit Juni Familienbischof. Wie definieren Sie Familie?
Glettler: Familie habe ich als einen Ort erfahren, wo man sich für sein Dasein weder entschuldigen noch legitimieren muss. Sie ist im Idealfall ein Freiraum, wo Menschwerdung passiert – aber sie ist wohl auch der Ort, wo die meiste Reibungsenergie produziert wird. Familie ist dennoch Heimat und Sehnsuchtsort. Suchten nicht gerade in der Corona-Krise viele erwachsene Kinder wieder mehr Nähe zu ihren Eltern und umgekehrt?
Der Familienbischof wünscht zjm Advent allen guten Mut und Zuversicht.
Wie wichtig ist Familie für Sie persönlich und welche Bedeutung hat sie?
Familien – so vielfältig sie auch sein mögen – sind Lernorte für eine erste soziale Orientierung, für Rücksicht und Solidarität. Auch das Streiten und Versöhnen gehört dazu. Familien sind Oasen in der Nervosität unserer Zeit – ohne dass ich damit familiäre Situationen verklären möchte. Viele Familien sind von Beziehungsbrüchen und anderen Altlasten gezeichnet.
Welche Rolle spielt das familiäre Umfeld bei der Glaubensvermittlung?
Familien können Biotope des Vertrauens sein, in denen Kinder fast selbstverständlich in einen Glauben an Gott hineinwachsen. Die praktischen, lebensrelevanten Einstellungen der Eltern und Großeltern sind für Kinder prägend, mehr als alles, was darüber hinaus „gelehrt“ wird. Kinder können ebenso ihren Eltern einen Anstoß zum Glauben geben – mit ihrem fast „natürlichen“ Umgang mit Gott und ihrer Fähigkeit zu staunen sind sie uns Vorbild. Sie wissen, dass das Leben zuallererst ein unverfügbares Geschenk ist.
Wie wichtig sind Familien für die Kirche?
Familien sind Kirche. „Die Kirche“ findet niemals im abstrakten Raum statt. Im wirtschaftlichen Jargon gesprochen: Familien sind im Großkonzern Kirche die unersetzlichen Start-Ups. Was dort grundgelegt und programmiert wird, wirkt sich aus – es können Anleitungen zur Großherzigkeit sein oder auch belastende Vorgaben. Gott selbst ist in einer Familie Mensch geworden. Somit haben alle erfreulichen und schwierigen Umstände familiären Lebens auch mit Gott zu tun.
Wo brauchen Familien aus ihrer Sicht Unterstützung?
Wir dürfen nicht zulassen, dass von Familie nur in problematischen Zusammenhängen die Rede ist: Gewalt in der Familie, psychische Belastungen im familiären Kontext, finanzielle Nöte u.a.. Familien sind Zukunftsressorts, die wir uns als Gesellschaft unbedingt leisten müssen. Eine effektive Unterstützung von Familien wird damit zur gesamtgesellschaftlichen Aufgabe. Sie reicht über finanzielle Soforthilfe in akuten Notsituationen, Maßnahmen zur Gewaltprävention und Hilfen zur Erziehung hinaus. Ebenso braucht es Unterstützung von Alleinerziehenden und pflegenden Angehörigen.
Was sind Ihre zentralen Anliegen als Familienbischof? Was möchten Sie für Familien erreichen?
Ich möchte mehr öffentliche Wertschätzung für Familien. Über Bildungschancen sollten nicht soziale Herkunft und Milieu entscheiden. Faire Entlohnung für Frauen wäre ein weiterer Baustein, denn sie stemmen meist die Hauptlast der „Familienarbeit“. Gerade die Akutphasen der Corona-Krise zeigen, dass die Familien zur Bewältigung der psychischen Herausforderungen eine wesentliche Rolle spielen. Rückhalt, Geborgenheit, Zugehörigkeit, … hinter diesen Schlagworten verbirgt sich viel menschliche Sehnsucht.
Sie haben es schon angesprochen: Corona ist für viele Familien eine herausfordernde Zeit. Wie kann Kirche hier Trost spenden?
Kirche kann trostreich sein, wenn sie vor Ort wie eine Familie erlebbar ist. Einzelne Gläubige können eine freundschaftliche, einfühlsame Begleitung anbieten – inklusive kleiner Dienste, bei Bedarf Einkäufe erledigen, Babysitten oder „Krankenschwester“ spielen. Familien brauchen Nachbarfamilien, Austausch und Kommunikation. Schön, wenn es in den Familien selbst einen Runden Tisch gibt, wo alles ausdiskutiert werden kann. Viel Trost liegt in einem gemeinsamen Gebet, selbst wenn es täglich nur eine ganz kurze Zeit ist – speziell Kinder brauchen diese geistlichen Orientierungspunkte, einfache Rituale. Für Familien in Not gibt es natürlich auch das vielfältige Angebot der Familie von der Caritas oder anderen Einrichtungen.
Was tröstet Sie in schwierigen Zeiten?
Mich trösten Menschen, die sich auch nach großen persönlichen Katastrophen wieder aufgerichtet haben. Gerade dadurch können sie andere mit Einfühlungsvermögen trösten. Sie sind mir Vorbild. Tröstlich wirken Menschen, die nicht nur um ihre eigene Befindlichkeit kreisen. Jede Hinwendung zum Du ist trostreich. Darüber hinaus tröstet mich mein tägliches Gebet. Es ist eine kostbare Stille vor und mit Jesus, um runterzukommen und aufzutanken. Pakete, die mir zu schwer sind, übergebe ich ihm.
Weihnachten ist das Familienfest. Worauf haben Sie sich als Kind zu Weihnachten gefreut?
Es war die Stimmung insgesamt, das Geheimnisvolle, bestimmt eine kindliche Ahnung von Gottes Nähe. Und natürlich der Heilige Abend, Christbaum & Co. Ich habe mich als Kind an den festen Abläufen orientiert. Das hat Halt gegeben und das Grundvertrauen gestärkt, dass die Welt doch einen Zusammenhalt hat. Beeindruckend war für mich auch das lange Rosenkranzgebet, das mein Großvater vorgebetet hat, bevor es mit den Feierlichkeiten losging.
Wie feiern Sie jetzt Weihnachten?
Schlicht und schön in der kleinen Hausgemeinschaft meines Bischofshauses. Am Heiligen Abend und zu Epiphanie gehen wir betend mit Weihrauch und Weihwasser durch alle Räume. Dieser Brauch bringt zum Ausdruck, dass der menschgewordenen Gott alle Räume unseres Lebens bewohnen soll. Am Nachmittag des 24. Dezembers mache ich meist Besuche im Hospiz, in Einrichtungen für Obdachlose und in einem Haus für Drogenkranke. Die Mette feiere ich auswärts in einer Pfarre.
Schenken Sie etwas zu Weihnachten bzw. werden Sie beschenkt?
Nur Kleinigkeiten. In unserer Familie, die sich am Stefanietag trifft, wird gewichtelt, d.h. jedes Familienmitglied macht einer Person ein Geschenk. Das ist nett. Beschenkt werde ich dennoch vielfach, meist sind es besonders wertvolle Zeilen in der Weihnachtspost und die Zusage von Gebet.
Hat Corona Auswirkungen auf unsere Feierkultur?
Möglicherweise. Ich glaube, wir sollten uns heuer mehr Besinnlichkeit leisten. Wir merken doch alle, dass das Äußerliche allein, uns nicht glücklich macht. Neben dem Outfit brauchen wir das Soulfit. Unsere Seele nährt sich von Nähe, von einer guten Zeit, die man gemeinsam verbringt – und oftmals von einem Wort, das Versöhnung schafft, begleitet von kleinen Gesten der Verbundenheit.
Was wünschen Sie unseren Leser/innen zu Weihnachten und fürs neue Jahr?
Ich wünsche allen den Geist des Mutes und der Zuversicht. Diesen Geist brauchen wir ganz dringend, um nicht von diffusen Ängsten gesteuert zu werden oder in eine chronische Verzagtheit zu schlittern. Jede Minute unseres Lebens, jede Stunde ist gottvoll und somit auch das gesamte kommende Jahr. Ich wünsche allen die Erfahrung von Gottes Nähe – Emmanuel, Gott mit uns!